Wirtschaftliche Unsicherheit, steigender Kostendruck und eine zunehmende Reglementierung im Bereich Nachhaltigkeit sorgen in der Automobilbranche für einen bemerkenswerten Trend: Der Markt für gebrauchte Kfz-Ersatzteile wächst – und das nicht nur in der Breite, sondern auch in der Tiefe der Wertschöpfung. Vom Imagewandel über neue gesetzliche Rahmenbedingungen bis hin zu technologischen Anforderungen durch Elektromobilität verändern sich Prozesse, Beteiligte und Strukturen im Aftersales-Geschäft grundlegend.
Kreislaufwirtschaft wird zur Pflicht
Ein wesentlicher Treiber ist der politische Rahmen. In der EU gilt seit Anfang 2024 die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD). Sie verpflichtet große Unternehmen dazu, umfangreich über ihre Umwelt- und Sozialauswirkungen zu berichten. In Frankreich ist der Einbau gebrauchter Teile in Werkstätten bei bestimmten Reparaturen bereits gesetzlich vorgeschrieben. Auch in Deutschland steht die Förderung der Kreislaufwirtschaft im Mobilitätssektor verstärkt im Fokus.
Parallel verschiebt sich die Kundenwahrnehmung. Während gebrauchte Ersatzteile lange Zeit als Notlösung galten, werden sie heute zunehmend als sinnvolle Option zur Ressourcenschonung anerkannt. Laut einer Studie des Europäischen Verbands für Demontageunternehmen (EGARA) ist der Marktanteil gebrauchter Teile in Europa in den letzten drei Jahren um rund 15 Prozent gestiegen.
Professionalisierung und neue Marktstrukturen
Die Branche durchläuft derzeit eine Phase intensiver Professionalisierung. Wo früher kleine, regional verwurzelte Betriebe dominierten, treten nun verstärkt größere Unternehmen mit industriellen Prozessen auf. Die Rückverfolgbarkeit der Teile, Qualitätskontrollen sowie transparente Herkunftsnachweise sind zunehmend Standard.
Größere OEMs und Zulieferer erkennen den strategischen Wert des Gebrauchtteilegeschäfts. Stellantis investiert beispielsweise in den Mirafiori Circular Economy Hub in Turin – ein Industriekomplex zur Wiederverwendung und Aufarbeitung von Fahrzeugkomponenten.
Toyota plant in Großbritannien ein neues Werk, das sich vollständig auf das Zerlegen, Prüfen und Wiederaufbereiten gebrauchter Teile konzentriert.
Auch Renault hat mit der „Refactory“ in Flins ein umfangreiches Zentrum für die industrielle Kreislaufwirtschaft aufgebaut. In Deutschland hat Mercedes-Benz AG mit seiner Tochtergesellschaft GTC sich bereits etabliert. Und Volkswagen plant weitere Standorte, die sich auf die Zerlegung von Fahrzeugen spezialisieren.
Elektromobilität verändert den Rückbau
Der technologische Wandel durch die Elektromobilität bringt neue Herausforderungen mit sich. End-of-Life Vehicles (ELVs) mit reinem oder teilweisem Elektroantrieb enthalten wertvolle, aber auch hochkomplexe Bauteile. Die Batterie als zentrales Element erfordert besondere Lager-, Demontage- und Testverfahren. Gleichzeitig steigt die Bedeutung sicherheitsrelevanter Systeme wie Sensorik, Steuergeräte und Hochvoltkomponenten.
Für die Werkstatt- und Demontagepraxis bedeutet das: Neue Tools, gezielte Schulungen und angepasste Prozesse sind erforderlich, um den steigenden technischen Anforderungen gerecht zu werden. Die Zeiten, in denen gebrauchte Teile per Sichtprüfung eingeschätzt wurden, sind vorbei – heute zählen Diagnosetools, Rückverfolgbarkeit und dokumentierte Qualität.
Zugang zu Altfahrzeugen wird zum Engpass
Im Zentrum der Kreislaufwirtschaft steht der Zugang zu Altfahrzeugen. Die Verfügbarkeit geeigneter Fahrzeuge zur Demontage wird in den kommenden Jahren zum strategischen Faktor. Einige Marktteilnehmer investieren bereits in eigene Rückführungsnetzwerke, etwa durch digitale Plattformen zur Erfassung und Rückholung ausgedienter Fahrzeuge.
Gleichzeitig fordern Demontagebetriebe eine klare gesetzliche Regelung zur Fahrzeugrücknahme und -verwertung auf EU-Ebene, um gegen illegale Exportströme und unkontrollierte Fahrzeugverwertung vorzugehen. Laut einer Studie der Europäischen Kommission verschwinden jährlich rund 3,5 Millionen Fahrzeuge aus der offiziellen Statistik – ein erheblicher Anteil davon außerhalb regulierter Rückbauketten.
Gebrauchtteilemarkt im Wandel
Der Gebrauchtteilemarkt hat sich in wenigen Jahren vom wenig beachteten Nischensegment zu einem strategisch wichtigen Bereich der Automobilbranche entwickelt. Die Kombination aus wirtschaftlichem Druck, politischem Wandel und technologischer Transformation treibt die Professionalisierung und Konsolidierung voran. Werkstätten und Teilehändler sind gut beraten, sich mit den neuen Anforderungen frühzeitig auseinanderzusetzen. Insbesondere der sichere und effiziente Umgang mit Komponenten aus Elektrofahrzeugen wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. HARO / MID