Die wirtschaftspolitische Neuausrichtung der Bundesregierung hat direkte Auswirkungen auf Industrie, Mittelstand und die gesamte Lieferkette – auch und insbesondere in der Automobil- und Zulieferindustrie. Mit einem Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro, einer Reform der Schuldenbremse und einem neuen Fokus auf Sicherheit und Infrastruktur entsteht eine neue Realität, in der Investitionen nicht nur möglich, sondern zwingend notwendig werden. Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, doch das neue Programm könnte ein Wendepunkt sein. Prof. Dr. Jens Südekum, Universitätsprofessor für internationale Volkswirtschaftslehre und persönlicher Berater des Bundesfinanzminister referiert beim GVA Kongress 2025 in Frankfurt.
Geopolitik als neuer Standortfaktor: China, USA und der Druck auf die Exportmärkte
Die wirtschaftliche Abkühlung in der Industrie ist kein isoliertes Phänomen. Monatlich gehen in Deutschland derzeit rund 13.000 Industriearbeitsplätze verloren – doppelt so viele wie im Vorjahr. Besonders betroffen ist das verarbeitende Gewerbe, allen voran die Automobilindustrie. Die Ursachen sind vielschichtig, doch geopolitische Veränderungen gelten als entscheidender Faktor.
China hat sich vom Absatzmarkt zum Wettbewerber entwickelt. Mit einer Überproduktion von 50 Millionen Fahrzeugen bei einer Inlandsnachfrage von nur 25 Millionen Fahrzeugen drückt die chinesische Industrie ihre Produkte zunehmend in die Exportmärkte – oft zu subventionierten Preisen. Die deutsche Autoindustrie verliert Marktanteile, insbesondere im Bereich der Elektromobilität. Gleichzeitig droht mit einem möglichen Wahlsieg von Donald Trump 2028 eine protektionistische Wende in den USA – dem derzeit wichtigsten Exportmarkt für deutsche Fahrzeuge.
Nachfrageimpuls durch Staat: Sondervermögen soll Wirtschaft stabilisieren
Angesichts der wirtschaftlichen Schwächephase und der geopolitischen Unsicherheiten setzt die Bundesregierung auf einen gezielten Nachfrageimpuls. Im März 2025 wurde ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro beschlossen, das Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur ermöglicht. Zusätzlich wurde die Schuldenbremse angepasst, um notwendige Ausgaben nicht länger zu blockieren.
Dabei geht es nicht nur um Militärausgaben, sondern auch um wirtschaftliche Stabilisierung. Der Hintergrund: Die deutsche Wirtschaft kann sich nicht mehr – wie in früheren Jahrzehnten – auf externes Wachstum durch Exportmärkte verlassen. Die Nachfrage muss von innen kommen. Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in Brücken, Schienen und digitale Netze, sollen nicht nur die Modernisierung vorantreiben, sondern auch die Bau- und Zulieferindustrie stützen.
Infrastruktur allein reicht nicht: Umsetzung ist das Nadelöhr
Während die Finanzmittel bereitstehen, liegt die eigentliche Herausforderung in der Umsetzung. Sanierungsstaus, Genehmigungsverfahren und Fachkräftemangel bremsen die Investitionsdynamik aus. Beispiel: 400 marode Autobahnbrücken sollen mit Mitteln aus dem Sondervermögen saniert werden. Doch Planung, Ausschreibung und Genehmigung dauern oft 10 bis 20 Jahre – ein Zeitraum, in dem kein Wachstumsimpuls ankommt.
Zwei Maßnahmen sollen hier Abhilfe schaffen: das Planungsbeschleunigungsgesetz und das Infrastruktur-Zukunftsgesetz. Beide sollen Genehmigungsprozesse vereinfachen, Ausschreibungsverfahren straffen und Investitionen schneller in reale Projekte überführen. Ziel ist es, Projekte wie LNG-Terminals – die während der Energiekrise in unter 10 Monaten realisiert wurden – zum Standard zu machen.
Arbeitsmarkt im Wandel: Mehr Tempo, mehr Köpfe, mehr Qualifikation auf bei der Zulieferindustrie
Ein weiterer Engpass ist der Arbeitsmarkt. Die demografische Entwicklung reduziert die Erwerbsbevölkerung, während gleichzeitig ein hoher Bedarf an Fachkräften in der Rüstungs-, Bau- und Industrieproduktion entsteht. Gleichzeitig fehlen Mechanismen, um Menschen schnell zwischen Branchen zu verschieben.
Beispiel: Der angekündigte Stellenabbau bei VW betrifft hochqualifizierte Fachkräfte. Eine zielgerichtete Umschichtung – etwa in den Bereich Wehrtechnik – kann Beschäftigung sichern und gleichzeitig Wachstum generieren. Der Bedarf an Arbeitskräften wird weiter steigen, insbesondere in technologieintensiven Branchen. Ohne gezielte Zuwanderung, Qualifizierung und flexiblere Arbeitszeitmodelle ist diese Herausforderung kaum lösbar.
Auto- und Zulieferindustrie: Wandel als Dauerzustand
Für die Automobil- und Zulieferindustrie bedeutet die aktuelle Lage eine doppelte Herausforderung. Auf der einen Seite fallen klassische Geschäftsfelder weg – wie etwa Komponenten für Verbrennungsmotoren –, auf der anderen Seite wachsen die Anforderungen an Anpassungsgeschwindigkeit, Produktentwicklung und Marktdiversifikation.
Wichtige Investitionen in Digitalisierung, Software, alternative Antriebe und neue Geschäftsmodelle sind oft kapitalintensiv. Doch gerade hier liegt der zentrale Hebel für Wettbewerbsfähigkeit. Die neue Finanzpolitik kann über den Deutschlandfonds auch gezielt privates Kapital mobilisieren – etwa für Defence-Tech-Start-ups oder softwaregetriebene Plattformen im Automotive-Bereich.
Fazit: Industriepolitik als Überlebensfrage
Die wirtschaftspolitische Neuausrichtung der Bundesregierung ist ein notwendiger Schritt, um den strukturellen Herausforderungen der Industrie zu begegnen. Für die Automobil- und Zulieferindustrie ist sie eine Chance – aber auch eine letzte Warnung. Wer jetzt nicht investiert, nicht umbaut und nicht umdenkt, wird von der Dynamik der neuen Märkte abgehängt.
Tempo, Flexibilität und strategische Partnerschaften sind die zentralen Stellhebel. Gleichzeitig muss die Politik liefern: mit Planungsbeschleunigung, klugen Migrationsstrategien und einer realitätsnahen Industriepolitik. Nur wenn alle Akteure – Staat, Wirtschaft und Gesellschaft – gemeinsam handeln, kann der Strukturwandel zu einem Aufbruch werden. Q: GVA Kongress
FAQ
Warum ist China für die deutsche Zulieferindustrie ein Risiko?
China hat Überkapazitäten in der Fahrzeugproduktion und exportiert aggressive Preisangebote weltweit. Deutsche Hersteller verlieren Marktanteile, vor allem im E-Auto-Segment. Die Rolle Chinas hat sich vom Absatzmarkt zum Konkurrenten gewandelt.
Was bringt das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen der Bundesregierung?
Das Sondervermögen soll Infrastruktur und Verteidigung modernisieren. Ziel ist ein Nachfrageimpuls, um die Wirtschaft zu stabilisieren und das Wachstum wieder anzukurbeln – auch in Industrie und Zulieferbranche.
Wieso ist die Umsetzung der Investitionen so schwierig?
Langwierige Genehmigungsverfahren, Fachkräftemangel und begrenzte Kapazitäten in Bau und Industrie verzögern die Umsetzung. Gesetzesinitiativen wie das Infrastruktur-Zukunftsgesetz sollen diese Hürden abbauen.
Welche Rolle spielt Zuwanderung für die Zulieferindustrie?
Zuwanderung ist entscheidend, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Ohne qualifizierte Zuwanderung wird die Wirtschaft in wichtigen Bereichen – von Bau über IT bis Produktion – nicht wachsen können.

