Guttenberg beim GVA: Warum wir den Mut zur Veränderung brauchen

Veröffentlicht am 26.11.2025
Angesichts globaler Krisen, technologischer Umbrüche und wachsender Unsicherheit steht Europa vor einer historischen Weggabelung. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister skizziert in seinem Vortrag die dramatischen geopolitischen Veränderungen und analysiert die strukturellen Schwächen Europas – mit besonderem Blick auf Deutschland. Zwischen Risikovermeidung, regulatorischer Überkomplexität und mangelnder Zukunftsplanung stellt sich die Frage: Wie kann Europa seine Rolle behaupten? Ein Plädoyer für Szenarien-Denken, Mut zur Entscheidung und ein Ende der selbstverliebten Problemkultur.
 

Nach Jahrzehnten geopolitischer Stabilität sieht sich Europa mit einem weltweiten Wandel konfrontiert, der nicht nur wirtschaftliche, sondern auch sicherheitspolitische und gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringt. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister blickt auf diese Entwicklungen mit einem kritischen, aber konstruktiven Blick. Zehn Jahre in den USA haben seine Perspektive geprägt – vor allem im Vergleich zu deutschen Mentalitätsmustern. Dabei wird deutlich: Der „gemähte Weg“ ist vorbei. Es braucht Mut zur Entscheidung, Risikobereitschaft – und ein neues Selbstverständnis. Karl-Theodor zu Guttenberg, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie a.D., Bundesverteidigungsminister a.D. referierte beim GVA Kongress.


Szenarien-Denken statt Schönwetterpolitik

In der Berliner Politik dominiert laut Guttenberg nach wie vor das Prinzip des „Fahrens auf Sicht“. Statt realistischer Szenarienplanung, insbesondere für Krisen- oder Negativentwicklungen, setzt man auf kurzfristige Reaktionen. Dabei ist es gerade in einer Welt mit wachsender geopolitischer Instabilität essenziell, in Wahrscheinlichkeiten zu denken.

Beispiele wie ein potenzieller Konflikt in Taiwan, die fortschreitende Implosion des Sudans oder ein populistischer Wahlsieg in den USA werden nicht antizipiert – obwohl ihre Eintrittswahrscheinlichkeit alles andere als marginal ist. Die Angst, Panik auszulösen oder unbequeme Wahrheiten auszusprechen, führt zu politischer Lähmung. Doch genau hier liegt das Problem: Wer Gefahren nicht benennt, kann ihnen auch nicht begegnen.

Der geopolitische Wandel ist real – und er passiert ohne Europa

Der G20-Gipfel ohne Trump, Putin und Xi Jinping ist mehr als nur symbolisch. Es ist ein Ausdruck der Machtverschiebung. Entscheidungen, die ganze Märkte beeinflussen, werden heute nicht mehr nur in Hauptstädten getroffen, sondern in Konzernzentralen. CEOs wie Elon Musk gestalten heute globale Politik – ohne demokratische Legitimation, aber mit enormem Einfluss.

Während in Berlin ein KI-Gipfel mit zwölf Milliarden Euro als großer Wurf gefeiert wird, investiert Saudi-Arabien allein über 120 Milliarden Euro in dieselbe Technologie. Ein bezeichnender Unterschied, der die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität aufzeigt. Europa droht, zum Zuschauer zu werden, während andere Akteure Fakten schaffen.

Europas Dornröschenschlaf – und sein böses Erwachen

Die komfortable Nachkriegsordnung, auf die sich Europa Jahrzehnte lang verlassen konnte, ist Vergangenheit. Die dreifache Abhängigkeit von billiger russischer Energie, amerikanischer Sicherheit und chinesischer Nachfrage wurde zu lange ignoriert. Jetzt bröckelt dieses Fundament.

Doch statt entschlossen zu handeln, verharrt ein Großteil der politischen und wirtschaftlichen Eliten in einer Abwehrhaltung – mit einer Haltung, die tief in der deutschen Mentalität verankert ist: dem übertriebenen Sicherheitsbedürfnis, dem Reflex zur Risikovermeidung und dem Hang zur Selbstkritik bis zur Selbstverleugnung.

Die Folge: Investitionszurückhaltung, Innovationslücken, Kapitalflucht – und ein systematisch verlorenes Jahrzehnt, wenn nicht gegengesteuert wird.

Problemkultur versus Lösungshaltung

Ein prägnanter Abschnitt des Vortrags widmet sich der deutschen Sprach- und Denkkultur: Während in anderen Ländern Herausforderungen als Treiber für Innovation betrachtet werden, spricht man in Deutschland bevorzugt von Problemen.

Diese semantische Selbstblockade verhindert Fortschritt. Wer nur Probleme sieht, entwickelt keine Lösungsansätze. Ein Beispiel: Während die DARPA in den USA bewusst Projekte mit hohen Risiken fördert, von denen nur ein Bruchteil erfolgreich ist, aber bahnbrechende Entwicklungen wie das Internet hervorgebracht hat, dominiert in Europa die Angst, auf das „falsche Pferd“ zu setzen.

Der Rückstand bei der Fusionsenergie, obwohl Deutschland technologisch führend ist, ist sinnbildlich. Kein Kraftwerk wird hier gebaut – aus Angst zu scheitern. Stattdessen profitieren Staaten wie die Emirate oder die USA von deutscher Technologie, während Europa zögert.

Selbstverzwergung durch „Hidden Champions“?

Der Vortragende kritisiert auch das deutsche Understatement. Der Begriff „Hidden Champions“ sei symptomatisch für eine Kultur der Zurückhaltung. Während andere Nationen offensiv ihre Leistungen vermarkten, versteckt sich Deutschland hinter Bescheidenheit.

Er plädiert dafür, technologische Spitzenleistungen – etwa in den Bereichen Quantencomputing, Maschinenbau oder Raumfahrt – stärker international sichtbar zu machen und zu vernetzen. Es brauche ein neues Selbstbewusstsein – nicht Überheblichkeit, aber ein realistisches Verständnis für das eigene Potenzial.

Risikovermeidung als Wachstumsbremse

Die Angst vor dem Scheitern sei eines der größten Hindernisse für Fortschritt. In Deutschland bedeutet Scheitern oft das Aus – inklusive öffentlicher Häme und systemischer Barrieren für einen Neuanfang. In den USA hingegen gehört Scheitern zur unternehmerischen Biografie.

Dieser kulturelle Unterschied blockiert in Deutschland Investitionen, Innovation und Gründergeist. Venture Capital bleibt Mangelware, vor allem in der Wachstumsphase junger Technologien. Die Folge: Talente wandern ab, Unternehmen verlagern ihre Entwicklung ins Ausland – mit langfristigen Folgen für den Standort.

Politik braucht wieder Mut – auch auf die Gefahr des Scheiterns

Das Beispiel Agenda 2010 wird als positives Lehrstück genannt: Gerhard Schröder habe politisch verloren, aber inhaltlich gewonnen. Heute fehle dieser Mut zur Gestaltung. Stattdessen verheddert sich Politik in Koalitionslogik, Konsenszwang und parteipolitischer Taktik.

Der Vortrag fordert, dass Entscheidungsträger sich wieder „unverrückbar“ zu Themen positionieren – auch auf Kosten der medialen Sympathie. Nur so könne verlorenes Vertrauen zurückgewonnen und gesellschaftlicher Fortschritt angestoßen werden. Politik dürfe nicht nur verwalten – sie müsse führen.

Fazit: Europa braucht eine neue Haltung – nicht nur neue Maßnahmen

Die Herausforderungen sind klar identifiziert: geopolitische Verschiebungen, technologische Rückstände, mentale Blockaden. Doch der Weg zur Lösung beginnt nicht mit neuen Gesetzen oder Investitionspaketen, sondern mit einem kulturellen Wandel – in der Politik, in Unternehmen und in der Gesellschaft.

Wer bestehen will in einer Welt zwischen den Blöcken, darf nicht weiter auf „gemähte Wiesen“ hoffen. Es braucht eine neue Geisteshaltung: Mut zur Entscheidung, Bereitschaft zum Risiko und ein Ende der Selbstverzwergung. Nur so kann Europa, kann Deutschland, wieder eine gestaltende Rolle einnehmen. Q: GVA Kongress

FAQ

Warum ist Szenarien-Denken in der Politik so wichtig?

Szenarien helfen, Risiken frühzeitig zu erkennen und Handlungsoptionen zu entwickeln. In Krisenzeiten ermöglicht vorausschauende Planung ein besseres Reagieren. Ohne Szenarien-Denken bleibt Politik reaktiv und anfällig für externe Schocks.

Wie wirkt sich Deutschlands Risikovermeidung auf Innovation aus?

Die Angst vor dem Scheitern verhindert Investitionen in zukunftsweisende Technologien. Dadurch fehlen Wagniskapital und dynamisches Wachstum. Länder wie die USA oder Israel sind hier deutlich mutiger – und erfolgreicher.

Was meint der Begriff „Hidden Champions“ – und warum wird er kritisiert?

„Hidden Champions“ beschreibt mittelständische Weltmarktführer, die wenig bekannt sind. Der Vortrag kritisiert, dass Deutschland diese Spitzenleistungen zu wenig sichtbar macht. Es fehlt der internationale Gestaltungsanspruch und das Selbstbewusstsein.


Welche Rolle spielt Kultur bei technologischer Wettbewerbsfähigkeit?

Kulturelle Faktoren wie Fehlerakzeptanz, Sprache oder Mentalität prägen Innovationskraft. Wer Probleme statt Herausforderungen sieht, bleibt im Reagieren. Andere Länder setzen stärker auf Chancen und Selbstvertrauen – mit deutlich mehr wirtschaftlichem Erfolg

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